Christian HartardArbeitenForschung, Texte, CVstudio@hartard.com en
                  

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Less Work for Mother

Museum Villa Stuck München (solo)

Kuratorin: Verena Hein
19. Juni – 21. Oktober 2018 

Eröffnung: Montag, 18. Juni 2018, 19 Uhr

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog (dt / en) im Distanz-Verlag Berlin, mit Beiträgen von Christian Hartard, Florian Pumhösl und Verena Hein, Gestaltung: Bernd Kuchenbeiser.

Katalog

Mit Unterstützung der
Alexander-Tutsek-Stiftung, Erwin-und-Gisela-von-Steiner-Stiftung, Prinzregent-Luitpold-Stiftung.

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Pressetext

Im Rahmen der Reihe RICOCHET zeigt das Museum Villa Stuck mit der Ausstellung »Less Work for Mother« die erste museale Einzelpräsentation des Münchner Künstlers Christian Hartard (geb. 1977). Für die Räume im zweiten Obergeschoss der historischen Villa Stuck entwickelt er ein komplexes Ensemble aus Objekten, Grafik, Video und ortsspezifischen Installationen, die um Motive von Abwesenheit und Präsenz, Zeigen und Verbergen kreisen.

Hartard nähert sich in zehn eigens für die Ausstellung entstandenen Werken elementaren Erfahrungen und Emotionen wie Angst, Ohnmacht, Verlust. Es entsteht eine Choreographie von Objekten, welche die Betrachter empfindsam auf Gegensätze wie hart
 / weich, durchlässig / fest oder kalt / warm reagieren lassen. Ihre sensorischen Eigenschaften, wie Geruch, Temperatur, Vibration oder Sound, lassen einen hinfühlen, hinriechen, hinhören, wenn hinsehen allein nicht reicht. Durch die Verwendung fragiler, schutzbedürftiger Stoffe, weicher und viskoser Materialien oder durch den Einsatz von Wärme, Kälte, Elektrizität und Fließvorgängen wird ihr Minimalismus gebrochen und sinnlich aufgeladen. Der Künstler interessiert sich für eine Kunst, die nicht Bilder, sondern Wirklichkeiten schafft. Der Betrachter ist daher mit konkreten Situationen konfrontiert, in denen die Werke als Gegenüber erfahrbar sind.

Ein stromführender Vorhang, zähflüssiges Industriewachs oder in Säure aufgelöstes Gold sind Energie- und Erinnerungsspeicher, die dem Nichtmehrvorhandenen einen Ort geben. Sie notieren, was verblasst und verschwunden ist. Auch das nervöse Zittern von Fensterglas, Bilder überkochender Milch, Dinge aus Porzellan und Textil sind Protokolle dessen, was einmal war oder gewesen sein könnte. Indem sie in den ehemaligen Dienstbotenräumen der Villa Stuck hauswirtschaftliche Tätigkeiten evozieren, legen sie mehrdeutige Spuren in die Vergangenheit.

Hartard erarbeitet sich ein Thema auf verschiedenen Ebenen, inhaltlich-archivarisch genauso wie formal-ästhetisch. Für die Ausstellung in der Villa Stuck führt ihn seine Recherche zu einem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte, aber auch zu einem traurigen innerhalb seiner eigenen Familiengeschichte. Davon ausgehend entwirft Hartard eine Serie von »Wiederbelebungsmaßnahmen«, in denen sich konzeptueller Zugriff und ästhetische Poesie verschränken.

In der Einzelausstellungsreihe RICOCHET (französisch für den Auf- bzw. Abprall, auch: Querschläger) präsentiert die Villa Stuck Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart, die sich mit Diskursen unserer Zeit sowie aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Problematiken auseinandersetzen und diese durch ästhetische Transformation einer Neubetrachtung öffnen. Bisherige Künstlerinnen und Künstler im Rahmen der Reihe waren u. a. Hito Steyerl, Ahmet Öğüt, Amie Siegel, Hisako Inoue, Jan Paul Evers und Anna Barriball.

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Zur Ausstellung

Ausgangspunkt der in der Villa Stuck gezeigten Werkserie waren Recherchen des Künstlers zur Biographie einer Großtante, die 1940 Opfer der NS-Euthanasie wurde
(zu ihrer Biographie:Wo ich hingehe, geht Sie nichts an, auch publiziert im Ausstellungskatalog). Barbara (Babette) Hartard, geboren 1895 in der damals bayerischen Rheinpfalz, war nach ihrer Schulentlassung bei der Familie des königlich bayerischen Regierungsrates Otto Luxenburger in Speyer als Dienstmädchen in Anstellung gekommen und ging mit dieser 1910 nach München. Der etwa gleichaltrige Sohn der Familie, Hans Luxenburger, wurde später durch seine psychiatrische Zwillingsforschung zur genetischen Bedingtheit der Schizophrenie bekannt und war in der Weimarer und der NS-Zeit einer der führenden Eugeniker; als Mitarbeiter am heutigen Max-Planck-Institut für Psychiatrie war er ein Befürworter eugenischer Sterilisationen und anderer ›rassehygienischer‹ Maßnahmen.

Barbara zog schon 1912 zurück in die Pfalz und kam erst im Sommer 1924, psychisch bereits schwer erkrankt, wieder nach München. Ihre letzte Wohnadresse war die Pension Daser in der Galeriestraße 35, heute Unsöldstraße 13. Ende September 1924 wurde Barbara als geisteskrank in die Psychiatrische Klinik München, die heutige Universitätsklinik für Psychiatrie in der Nußbaumstraße, eingewiesen und im Oktober in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing (Haar) verlegt. Sie blieb fast sechzehn Jahre dort Patientin. Ihre Krankenakte hat sich erhalten. Sie endet am 3. September 1940. An diesem Tag wurde Barbara zusammen mit 120 weiteren Frauen in die kurz zuvor eingerichtete Vernichtungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz gebracht und wenige Tage darauf dort getötet.

Die Auslöschung ›lebensunwerten Lebens‹ im ›Dritten Reich‹ war die Pervertierung eugenischer Ideen, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Deutschland diskutiert wurden und bis heute nichts von ihrer Brisanz eingebüßt haben. Für die Nationalsozialisten waren die Euthanasiemorde, für die erstmals Gaskammern eingesetzt wurden, zugleich Experimentierfeld und Blaupause für das industrialisierte Töten im Holocaust.

Die Werke der Ausstellung versuchen bewusst nicht, dieses komplexe geschichtliche Feld oder ein individuelles Schicksal zu dokumentieren oder zu illustrieren. Sie bemühen sich vielmehr, offene Formulierungen für Grunderfahrungen von Angst, Verlust oder Versehrung zu finden. Dennoch gibt es Referenzen zum historischen Geschehen, sichtbare und weniger sichtbare, die den Faden von dort zu den künstlerischen Setzungen weiterspinnen: Maße und Materialwahl; Motive von Körperlichkeit und latenter Gewalt, Schmerz und möglicher Heilung; die kühle Atmosphäre eines von Apparaturen aufrechterhaltenen, abhängig gemachten Lebens.

Der Titel »Less Work for Mother« erhält vor dem thematischen Hintergrund der Ausstellung eine durchaus zynische Note. Auch er bezieht sich aber wieder auf ein Stück Familiengeschichte. »Less Work for Mother« war seit den 1930er-Jahren der Slogan der Horn and Hardart Co. in Philadelphia und New York, der seinerzeit größten US-amerikanischen Gastronomiekette. Mitgründer der Gesellschaft war ein entfernter Cousin Barbara Hartards, der 1850 in der Pfalz geborene und als Kind in die USA ausgewanderte Frank A. Hardart (Franz Anton Hardardt). Er etablierte das Markenzeichen des Unternehmens, die »Horn and Hardart Automats«: kellnerlose Restaurants, in denen sich die Kunden aus gläsernen, von der Rückseite her befüllten und gegen Münzeinwurf sich öffnenden Fächern selbst bedienen konnten. Die Mitarbeiter, die zum Betrieb der Automaten natürlich nach wie vor benötigt wurden, verschwanden hinter der scheinbar selbsttätigen Maschinerie, die das Produkt ihrer Arbeit präsentierte und zugleich den Menschen als Subjekt der Arbeit unsichtbar machte.

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100 Sekunden

Videointerview zur Ausstellung »Less Work for Mother«:



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Besprechungen

Quirin Brunnmeier, Türen der Erinnerung. Christian Hartard in der Villa Stuck, Super Paper Nr. 106, August 2018 undGallerytalk, 23. August 2018  
Roberta De Righi, Was mit Tante Babette geschah, Abendzeitung München, 9. Juli 2018
Alexander Altmann, Erhellende Absurdität. José Antonio Suárez Londoños „Almanach“ und Installationen von Christian Hartard in der Münchner Villa Stuck, Bayerische Staatszeitung, 3. August 2018 
Die Villa Stuck zeigt wieder zwei faszinierende Ausstellungen, münchen.tv, 5. Juli 2018

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Programm

Freitag, 20. Juli 2018, 20 Uhr

Konzert vonMichaela Meise

Freitag, 5. Oktober 2018, 18 
22 Uhr
Friday Late

Donnerstag, 18. Oktober 2018, 19 Uhr

Thomas Hirschhorn: Never Give Up The Spot (Eröffnung)

Samstag, 20. Oktober 2018, 19 
2 Uhr
Lange Nacht der Museen

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Ausstellungsdokumentation

Photos: Jann Averwerser

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Erster Raum




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Less Work for Mother

2018
Pigmentdruck auf Papier nach einer Originalphotographie von Karl Schuhmann (1940 / 41), Passepartout, sichtbarer Ausschnitt 7,8 x 5 cm, gerahmt
22 x 33,5 cm 

Schloss Hartheim bei Linz fungierte seit 1940 als eine der sechs Vernichtungsanstalten, in denen im Rahmen der NS-Euthanasie systematisch Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen getötet wurden. Bis zum offiziellen Abbruch der sogenannten Aktion T4 im Jahr 1941 fielen allein in Hartheim mehr als 18 000 Patientinnen und Patienten aus deutschen und österreichischen Psychiatrien und Pflegeheimen dem Massenmord zum Opfer. Kurz nach Einrichtung der Vernichtungsanstalt Hartheim photographierte ein Nachbar des Schlosses heimlich den qualmenden Krematoriumsschornstein. Das Bild ist das einzige Dokument, das die Tötungsmaschinerie in Betrieb zeigt. In der bearbeiteten Version ist der größte Teil der Ansicht durch das Passepartout verdeckt, nur der aus dem Kamin strömende Leichenverbrennungsrauch bleibt im Ausschnitt sichtbar. 




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Doors (from Memory)

2018
Silikonkautschuk 
Je 1,7 x 75 x 165 cm


Die Gaskammer in Schloss Hartheim befand sich zwischen einem Untersuchungsraum, von dem aus die Opfer in Gruppen von 30 bis 60 Personen zur Vergasung gebracht wurden, und einem Technikraum, aus dem in Bodennähe ein perforiertes Eisenrohr zur Einleitung des Kohlenmonoxids in die Gaskammer führte. Nach beiden Seiten hin verfügte die Kammer nach Erinnerung des Zeugen Adam Golebski über eine Tür aus „Eisen, mit Gummi verdichtet, der Verschluss von massiven Heberiegeln, in der Tür ein kleiner runder Ausguck“. Nach der Zeugenaussage des Maurers Erwin Lambert waren zwei Türen eingebaut worden, wie sie auch „für Luftschutzräume Verwendung fand[en]“, vermutlich also handelsübliche Bunkertüren. Zur Verwischung der Spuren wurden 1944/45 die Türen entfernt und die Durchgänge geschlossen. Die bauarchäologisch feststellbaren Maße des vermauerten Türdurchbruchs zwischen Gaskammer und Technikraum decken sich mit den durch DIN-Vornorm 4104 standardisierten Normmaßen für „gasdichte Raumabschlüsse“. An ihnen orientieren sich die beiden Güsse aus weichem Kautschuk.






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Parallels (Milk)

2018
Zwei Videos s/w, je 9 min im Loop, Monitore je 46,5 x 59 x 49 cm

Beide Monitore zeigen scheinbar dasselbe Bild. Tatsächlich handelt es sich um zwei jeweils um Millisekunden gegeneinander verschobene Szenen. Aus einem mit der Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommenen Ausgangsfilm werden zwei neue, jeweils halb so lange Sequenzen hergestellt, indem die Einzelbilder des Originals im Wechsel auf zwei getrennte Filme verteilt werden. Da die Veränderungen zwischen zwei schnell aufeinanderfolgenden Bildern für das Auge nicht wahrnehmbar sind, entstehen zwei optisch identische Filme, die gleichwohl auf miteinander nicht-identischem Bildmaterial beruhen.



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Zweiter Raum



Phantom

2018
Verbundsicherheitsglas, eloxiertes Aluminium, Körperschallwandler, Verstärker, Tondatei
268 x 550 cm

Vier Fensterglasscheiben in Metallfassungen bilden eine quer durch den Ausstellungsraum laufende raumhohe Abtrennung. Sie werden durch Körperschallwandler in Vibration versetzt und erzeugen dabei ein unregelmäßiges, nervöses Klirren.



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Übergang zum dritten Raum



Untitled (Necklace)

2018
Feingold 999,9 in Säure gelöst als Goldsäure (HAuCl4), mundgeblasenes Glas, Fassung aus rhodiniertem Silber, 5 cm x 1,7 cm (Durchmesser), Textilschnur 

Gold wird in Königswasser, einer Mischung aus Salz- und Salpetersäure, bis zur Sättigungsgrenze gelöst. Der Name der Säure (,aqua regisʻ oder ,aqua regiaʻ) leitet sich von ihrer Fähigkeit ab, auch die Edelmetalle Gold und Platin zu zersetzen. Aus Gold entsteht dabei Tetrachloridogoldsäure. Glas gehört zu den wenigen Stoffen, die durch Königswasser nicht angegriffen werden.



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Dritter Raum



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Monument

2018
Edelstahl, Heizsystem, Paraffinwachs
70 x 150 x 90 cm

In einem flachen beheizten Stahlbecken wird Wachs zum Schmelzen gebracht und bildet eine flüssige Masse.





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Prothesis

2018
Poliertes Edelstahlrohr, Jodlösung (Jod-Kaliumiodid-Lösung, sogenannte Lugolsche Lösung), Pumpsystem 
Gesamtlänge 725 cm

Jodlösung fließt durch ein Kreislaufsystem aus Stahlröhren.






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Study for a Head

2018
Glasierte Keramik, ca. 13,5 x 16 x 21 cm, Kühlflüssigkeit, Eintauchkühler, Kühlaggregat, 38,5 x 18 x 27,5 cm 

Der hohle Keramikabguss eines Schneiderpuppenkopfes wird durch ein Kühlaggregat von innen auf eine Temperatur unter dem Gefrierpunkt gekühlt. An seiner Oberfläche bildet sich eine feine Rauhreifschicht.






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Traveller

2018
Silber, Baumwolle, elektrischer Strom, Erdung, Metallschiene 

268 x 630 cm (Umfang)

Ein Vorhang, der eine elektrisch leitfähige Oberfläche aus Silberfäden besitzt, ist an eine Spannungsquelle angeschlossen.



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All the Wrong Lessons

2018
Filzstift auf Papier, 19 x 14,8 cm (Handzeichnungen von Bernhard Hartard), Schatullendeckel aus verzinktem Stahlblech, 20 x 16 x 2,4 cm, Magnete

Mein Vater versucht, aus der freien Hand einen möglichst perfekten Kreis zu zeichnen. Ich bitte meinen Vater, während der Laufzeit der Ausstellung jeden Tag ein Blatt anzufertigen und postalisch an das Ausstellungshaus zu senden. Die Zeichnung wird täglich ausgetauscht.